Haushalt und Familie in der Stadt des Spätmittelalters

Eine historische Arbeit von Balint Dobozi im Rahmen eines Proseminars von Simon Teuscher an der Universität Zürich. September 1995.

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© by Bálint Dobozi, Zürich. Alle Rechte vorbehalten. Bei Verwendung von Teilen dieser Arbeit in wissenschaftlichen Texten erwarte ich die übliche Zitierung, z. B. "Dobozi, Bálint. Haushalt und Familie in der Stadt des Spätmittelalters. Proseminararbeit, Universität Zürich. Zürich 1995". Es kann auch die Homepage-Location angegeben werden. Danke.


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Forschungskritik und Begriffsdefinition: Haushalt, Familie, häusliche Gemeinschaft

III. Die Sozialtopographie der Stadt des Spätmittelalters

IV. Das Stadthaus

1. Handwerkerhaus
2. Patrizierhaus
3. Einrichtung

V. Haushalt und Familie: die häusliche Gemeinschaft

1. Grösse und Struktur häuslicher Gemeinschaften
2. Organisation des Haushaltes
3. Beziehungen zwischen den Mitgliedern der häuslichen Gemeinschaft

VI. Schlusswort

VII. Bibliographie

 

I. Einleitung

Haushalt und Familie sind Bereiche, mit denen sich jeder Mensch tagtäglich konfrontiert sieht. Fast jeder Mensch ist in einer Familie gross geworden und wurde durch sie geprägt. Viele Menschen haben selber eine Familie oder werden einmal eine gründen. Und praktisch jeder Mensch lebt in einem Haushalt. Haushalt und Familie sind Phänomene, deren Teil wir alle sind, was es nicht leichter, aber interessanter macht, sie zu erforschen.
Mit der Kritik am bürgerlichen Ideal der patriarchalischen Kleinfamilie kam auch die Frage auf, wie denn Familien und Haushalte in der Vergangenheit ausgesehen hatten. Diese Fragestellung war fruchtbar und hatte eine intensive Forschungstätigkeit zur Folge, die bis heute andauert. Indem wir die Entwicklung der Familie und ihrer Lebensumstände in frühere Jahrhunderte zurückverfolgen, erhalten wir Einblicke in die Geschichte der sozialen Formen, in denen Menschen lebten und so auch die Möglichkeit, diese früheren Formen der Familie mit den heutigen zu vergleichen. Wir erhalten Einblick in soziale Strukturen früherer Zeiten, was heutige, anscheinend selbstverständliche Formen des Zusammenlebens relativiert und die mögliche Selbstverständlichkeit anderer Formen vor Augen führt.
Für diese Arbeit über Haushalt und Familie in der spätmittelalterlichen Stadt stellte ich mir folgende Fragen:

- Wie sah ein Stadthaus im Spätmittelalter aus? Architektur? Infrastruktur? Einrichtung?
- Wie sah eine häusliche Gemeinschaft in der spätmittelalterlichen Stadt aus?
- Wie war ein Haushalt in der spätmittelalterlichen Stadt organisiert?
- Welche Beziehungen hatten die Mitglieder einer häuslichen Gemeinschaft zueinander?

Es erschien sinnvoll, den Untersuchungsbereich geographisch auf West-Mitteleuropa zu beschränken, um ein Mindestmass an Kohärenz zu gewährleisten. Insbesondere berücksichtigt wurden Frankreich, Flandern und das Gebiet des damaligen Deutschen Reiches, davon speziell Süddeutschland mit seinen aufkommenden Städten. Ausserdem bezog demographische Daten aus England und Italien mit ein. In den meisten Kapiteln differenzierte ich die Oberschicht von den Mittel- und Unterschichten, um die jeweils spezifischen Merkmale besser darstellen zu können.
Die Arbeit ist von aussen nach innen gegliedert. Nachdem ich die Forschungsentwicklung der letzten Jahrzehnte anhand theoretischer Arbeiten aufgezeigt und die wichtigsten in der Untersuchung zu verwendenden Begriffe definiert habe, beginne ich mit einer Sozialtopographie der spätmittelalterlichen Stadt. Es folgt die Beschreibung von Stadthäusern: Architektur, Infrastruktur, Einrichtung. Anschliessend versuche ich, mich den Menschen zu nähern, die in diesen Häusern wohnen. Zuerst diskutiere ich Grösse und Zusammensetzung früherer häuslicher Gemeinschaften. Anschliessend mache ich einige Bemerkungen zur Organisation der spätmittelalterlichen Stadthaushalte. Und zuletzt untersuche ich die Beziehungen zwischen den in diesen häuslichen Gemeinschaften zusammenlebenden Menschen.

 

II. Forschungskritik und Begriffsdefinition: Haushalt, Familie, häusliche Gemeinschaft1

Forschungskritik
Seit dem vermehrten Interesse der Sozialhistoriker an der Familiengeschichte wurde neben der Quellenauswertung immer auch die Diskussion um die Frage, wie Begriffe wie „Familie“, „Verwandtschaft“, „Haus“ und „Haushalt“ zu verstehen bzw. voneinander abzugrenzen seien, geführt. Insbesondere die sozialen Strukturen früherer Zeiten waren Gegenstand verschiedener Theorien und Modelle.
Lange beherrschte das Konzept des ökonomisch autarken „ganzen Hauses“ die Vorstellung über die vorindustrielle Familie. Otto Brunner2 hatte anhand normativer ökonomischer Schriften aus Spätmittelalter und früher Neuzeit dieses Bild eines im gleichen Hause produzierenden, reproduzierenden und konsumierenden Verbandes verwandter und nicht-verwandter Personen im Sinne der bäuerlich-mittelalterlichen „familia“ entworfen und wandte es auch auf die Stadtbevölkerung an.
Dieses Bild wurde in der Folge mit einer Art Evolutionstheorie der Familie verknüpft. Diese besagte, dass sich das „ganze Haus“ mit der Industrialisierung und der damit einhergehenden Trennung von Produktion und Reproduktion auflöste und so zur modernen Kernfamilie, bestehend aus Eltern und Kindern, entwickelte.
Diesem geschichtswissenschaftlichen Verständnis von „Familie“, das den Begriff für verschiedene historische Epochen unterschiedlich definierte, stand die soziologische Definition der „Familie“ gegenüber, die ihrerseits das Verwandtschaftskriterium stark betont3.
Einen Mittelweg beschreitet Martine Segalen in ihrer Arbeit „Die Familie“, in welcher sie den Begriffsinhalt von „Familie“ auf andere Begriffe wie „Kernfamilie“, „häusliche Gemeinschaft“ oder „Verwandtschaft“ verteilt4. In dieser Arbeit werde ich ihre Terminologie insbesondere von „häuslicher Gemeinschaft“5 anwenden, mit dem Unterschied, dass ich - im Gegensatz zu ihr6 - den Terminus „Haushalt“ in einem eingeschränkten Sinne beibehalten will.


Definition der Begriffe
7
„Familie“: wird hier als Begriff möglichst vermieden. Sollte er in anderen Wörtern vorkommen (familiär, Familiengeschäft etc.) ist damit immer die Dimension der Verwandtschaft oder des Geschlechts8 gemeint.

„Kernfamilie“: Vater, Mutter und Kinder, bzw. Witwe oder Witwer mit Kindern

„Verwandtschaft“: Gesamtheit der - blutsverwandten oder manchmal durch Heirat verwandten - Individuen, die eine Person als seine Verwandten anerkennt.

„Häusliche Gemeinschaft“9: eine Gruppe von Personen, die einen gemeinsamen Lebensraum teilt.
Sie hat vier Kategorien:
1. „Häusliche Gemeinschaft ohne familiale Struktur“:
keine erkennbare Struktur von verwandtschaftlichen Bindungen innerhalb der Gemeinschaft. Vor allem Alleinstehende.
2. „Einfache häusliche Gemeinschaft“:
Kernfamilie, d.h. Vater, Mutter und Kinder, bzw. Witwe oder Witwer mit Kindern mit etwaigen nicht-verwandten Personen wie Gesellen, Bediensteten.
3. „Erweiterte häusliche Gemeinschaft“:
Kernfamilie mit Verwandten der aufsteigenden, der absteigenden und der Seitenlinie, d.h. Vater oder Mutter des Familienhauptes oder seiner Frau, seines Bruders oder seiner Schwester, Neffe oder Grossneffe, sowie etwaigen nicht-verwandten Personen wie Gesellen, Bediensteten.
4. „Multiple häusliche Gemeinschaft“:
mehrere, miteinander verwandte Kernfamilien mit etwaigen nicht-verwandten Personen wie Gesellen, Bediensteten. Hat das ältere Ehepaar die Führung der häuslichen Gemeinschaft, so ist es eine Stammfamilie.

„Haushalt“: ökonomisches System, das durch eine häusliche Gemeinschaft betrieben wird.

„Betrieb“ oder „Geschäft“: vom Haushalt abgegrenzte Produktionseinheit. Diese Abgrenzung ist nicht zwingend eine örtliche: Haushalt und Betrieb/Geschäft werden aber als verschiedene Systeme verstanden.

 

III. Die Sozialtopographie der Stadt des Spätmittelalters

„Vortreffliche Stadt, sehr gross und stark befestigt. Nirgends sahen wir breitere, elegantere Strassen. Sie sind mit kleinen Steinen gepflastert und leicht gewölbt, so dass Wasser und Unrat abfliessen können. Vor der Kirche, die überaus schön ist, gibt es einen Platz der viel grösser ist als der Campo dei fiori in Rom und ebenso gepflastert wie die Strassen.“10
Dies schreibt Antonio de Beatis in seinem Reisebericht über die belgische Stadt Mechelen. Es war noch keine Selbstverständlichkeit, dass Strassen und Plätze gepflastert waren: in den grossen deutschen Städten wurde mit der Pflasterung der Plätze im Laufe des 14. Jahrhunderts begonnen11. Seitenstrassen und Gassen waren ungepflastert und wurden bei Regen aufgeweicht. Auf dem Boden lag Dreck und Unrat, den die Stadtbewohner vor die Türe schütteten12.
Am Marktplatz, dem Zentrum der Stadt, und den breiten Strassen, die zu ihm führten, wohnte die wirtschaftlich und politisch bestimmende Oberschicht der Patrizier13. Handwerker und kleine Kaufleute wohnten, mancherorts nach Gewerben verteilt14, in schmalen Gassen15. Die unteren Schichten, arme Witwen, Mägde, Gesellen und Knechte, die kein Bürgerrecht hatten, bewohnten kleine Häuser oder Hütten am Stadtrand oder in den Vorstädten16.


IV. Das Stadthaus

Ohne Allgemeingültigkeit zu beanspruchen, sollen im folgenden die wesentlichen Merkmale eines Handwerker- und eines Patrizierhauses der spätmittelalterlichen Stadt dargestellt werden.

1. Handwerkerhaus
Das Haus eines Handwerkers beherbergte in der Regel Wohnung und Arbeitsstätte. Grösse und Bauweise eines Hauses hing von der ökonomischen Lage seines Herrn ab. Die meisten Häuser waren eher klein und aus Holz oder bescheidenem Fachwerk erbaut17.
In den französischen Städten des 14. und 15. Jahrhunderts wurden die Häuser direkt an die Strasse gebaut18. Viele waren zweigeschossig, wobei das Erdgeschoss oft einige Treppen über dem Boden lag. Die Fassaden waren schmal, massen in der Regel zwischen 5 und 7 Meter. Dafür erreichte die Häusertiefe manchmal 10 Meter. Stroh- oder Schindeldächer wurden erst allmählich - oft mit der Unterstützung oder gar auf Befehl des Stadtrates - durch die feuersichereren, aber auch teuren Ziegeldächer ersetzt19.
Im Innern des Hauses führte ein schmaler Gang in die Werkstatt, den „ouvroir“ oder das „atelier“, und in das Hinterzimmer, die „basse chambre“, die zum Hof hinausführte. Eine Innentreppe führte in den oberen Stock, wo es weitere zwei bis drei Zimmer, wahrscheinlich Schlaf- und Wohnzimmer, gab20.
Die Räume waren dunkel, die Fenster klein. Glas, grün oder braun verfärbt21, trat nur selten an die Stelle von Papier, Pergament oder Tuch in den Fensteröffnungen22. Es führten noch keine Wasserleitungen zu den Häusern, weshalb in den Höfen mancher Häuser ein eigener Brunnen stand. War dies nicht der Fall, so musste man den Transport von der Quelle, dem Fluss oder einem öffentlichen Brunnen selbst bewerkstelligen, was eine mühevolle Arbeit war. In Paris liess man sich das Wasser deshalb oft mit Wasserträgern ins Haus bringen23.
Schon in einfacheren Häusern waren Latrinen vorzufinden. Die Fäkaliengrube, die sich zwei benachbarte Häuser manchmal teilten, wurde in vielen Orten Anfang des 16. Jahrhunderts zur Norm erklärt. Allerdings scheint es dann doch viel zu wenig solcher privater Aborte gegeben zu haben, denn in vielen Städten wurden öffentliche Aborte von der Stadtverwaltung - in sicherer Entfernung - an der Stadtmauer oder an einem Fluss aufgestellt24.
Beim Heizen der Räume herrschten unterschiedliche Bräuche25. Selten wurde der Arbeitsraum, die Werkstatt, geheizt. In Frankreich, wo die Häuser in der Regel mehrere Kamine hatten, wurde ausser in der Küche, der „salle“ und dem Schlafzimmer des Hausherrn nur dann eingeheizt, wenn jemand aus der Kälte hereinkam. In Deutschland wurde der Ofen in der Stube ganztägig beheizt, wie dies ein „livre de la description des pays“ darstellt:
„Gegen die Kälte, die im Winter über Deutschland hereinbricht, haben sie öfen, die so gut heizen, dass sie es in ihren Räumen warm haben, und im Winter gehen die Handwerker dort ihrer Arbeit nach und haben ihre Frau und die Kinder um sich, und diese öfen brauchen sehr wenig Holz.“26

2. Patrizierhaus
Die Häuser der reichen Patrizier waren nicht zuletzt ein Ausweis ihrer gesellschaftlichen Stellung und wirtschaftlichen Macht. Da die anderen Stadthäuser eher klein und unscheinbar waren, fielen diese grossen, oft aus Stein erbauten und mit Fassadenmalereien verzierten, stattlichen Häuser sofort auf27. Ihre Dächer waren in der Regel mit Dachziegeln besetzt. Fassaden wie Dächer wurden regelmässig unterhalten: übertüncht, ausgebessert, erneuert28.
Die Fenster zur Strasse waren üblicherweise verglast, was teuer war, während die Fensteröffnungen in den Seitenwänden und am Hinterhaus mit Holzläden, Leinwänden oder dünner Tierhaut verschlossen wurden. Dass Glas noch selten war, erklärt auch, warum sich Papst Pius II. 1430 am Konzil in Basel wunderte, in dieser Stadt so viele Glasfenster zu sehen29.
Hinter dem Haus befand sich oft ein Garten, den man sorgsam pflegte. Neben Obstbäumen, die man in eine kleine Wiese pflanzte, wurden auch Blumen und Kräuter angepflanzt30.
Im Hausinnern waren die Wände weiss gestrichen, die der repräsentativen Stube manchmal auch vertäfelt oder mit Verzierungen bemalt31. Ausser der Stube hatte das Haus mehrere Schlafzimmer, wobei das des Hausherrn mit seinen schönen Fliesen, Wandteppichen und einem grossen Bett besonders gut eingerichtet war32. Daneben lagen das Arbeitszimmer, das Privatkontor33, ein Ankleideraum und manchmal auch eine kleine Privatkapelle34. Nicht fehlen durfte natürlich das „heimliche Gemach“35, der Abort. Die darunterliegende Fäkaliengrube wurde bei Bedarf, was den Quellen zufolge alle zwanzig bis dreissig Jahre der Fall war, geräumt. Dies durfte nur im Winter und bei Nacht geschehen36.
Zur Beleuchtung der Räumlichkeiten verwendete man Unschlittkerzen37, seltener die teueren Wachskerzen. Sie wurden in Leuchter, Laternen oder Schirmlampen eingesetzt38. Die Wasserversorgung wurde meist durch den hauseigenen Privatbrunnen sichergestellt39. Für Wärme im Haus wiederum sorgten in der kalten Jahreszeit ein oder mehrere Kachelöfen und Feuerstellen, allerdings wurden kaum immer alle beheizt40.
In der patrizischen Küche war eine Feuerstelle zum Kochen eingerichtet, neben der kleingehacktes Holz bereitlag41. Verschiedene Töpfe und Krüge aus Ton, geflochtene Körbe und kleine Fässchen dienten zur Aufbewahrung von Lebensmitteln. Auf den Tisch schliesslich kamen Essgeschirr aus Holz, Ton oder gar edlem Zinn und das Essbesteck, das damals erst aus Messer und Löffel bestand.

3. Einrichtung
Die Möblierung der verschiedenen Häuser scheint sich in Qualität und Quantität, aber nicht grundsätzlich in der Zusammensetzung unterschieden zu haben, weshalb ich in diesem Punkt Patrizier- und Handwerkerhäuser zusammengefasst behandeln möchte.
Das wichtigste und wertvollste Möbelstück im Haus war das Bett42. Es bestand im wesentlichen aus drei Elementen: Bettgestell, Liegepolster, Decken bzw. Vorhänge.
Das Bettgestell, meist aus Eichen- oder Kiefernholz, war hoch und bot so Schutz vor Ungeziefer, Isolation vor Kälte und Feuchtigkeit und darunter einigen Stauraum. Manchmal war es so hoch, dass ein Treppchen nötig war, um es zu besteigen. Es hatte einen Bretterboden, auf den Stroh aufgestreut wurde.
Darauf legte man eine Matratze, die aus Stoffen wie Leinen, Wolle oder Baumwolle war und mit Strohresten, Hafer, Flockwolle oder - seltener - mit Daunen aufgefüllt wurde. Die Kopfkissen waren ähnlich gepolstert.
Es folgten mehrere Laken unterschiedlicher Qualität und in reichen Häusern eine warme Daunendecke. Manche Betten besassen auch einen Betthimmel und Vorhänge, die vor Zugluft schützten. Kurz: ein breites, gut ausgestattetes Bett war ein Statussymbol des Hauses.
Säuglinge wurden in eine Wiege gelegt. Wurde sie zu klein, musste ein Kinderbett angeschafft werden, das mehr Platz für das Kleinkind bot43. Allerdings konnte es diesem auch schon bald entwachsen sein, wie ein Rechnungsbucheintrag des Christoph Scheurl zeigt: „kawft ich meinem shun Jorg ein schones newes petlein (...), dann das andere was im got lob zu klain.“44
Das Universalmöbel scheint in reichen und armen Häusern gleichermassen die Truhe gewesen zu sein45. Sie stand in der Stube oder dem Schlafzimmer des Hausherrn46. In ihr bewahrte man von Wäsche und Kleidung über Briefe und wichtige Papiere bis zu Geld und Wertsachen alles mögliche auf. Daneben gab es auch Kleiderschränke, Kommoden und etwa „Schreine“, kleine Schmuckkästchen47.
Während sich ärmere Leute mit Schemeln und Bänken begnügen mussten, war es für Patrizier ein Zeichen der Würde, einen bequemen, aufwendig gearbeiteten Sessel zu besitzen. Aber auch - oft importierte - Textilien, wie Tischdecken, Wandteppiche und Bodenteppiche waren durchaus Prestigeobjekte, mit welchen man seine Räume ausstattete48.

Nach diesem Einblick in die Umgebung der spätmittelalterlichen Stadtbevölkerung will ich nun versuchen, mich den Menschen in der Stadt des Spätmittelalters zu nähern.

V. Haushalt und Familie: die häusliche Gemeinschaft

1. Grösse und Struktur häuslicher Gemeinschaften
Martine Segalen weist zu Recht darauf hin, dass das Studium demographischer und statistischer Daten ein nur vermeintlich stabiles Bild häuslicher Gemeinschaften früherer Zeiten vermittelt49. Statistische Angaben, die auf die Grösse häuslicher Gemeinschaften schliessen lassen, sind ausserdem nur spärlich vorhanden und oft unvollständig oder zu ungenau.
Dennoch fällt auf, dass die Analyse von Zahlen aus England, Frankreich und Italien für Spätmittelalter und frühe Neuzeit immer Durchschnittswerte zwischen 3 und 5 Personen pro „Herd“ oder eben häusliche Gemeinschaft ergeben50. Diese Ergebnisse nähren Zweifel an der Theorie der Grossfamilie früherer Zeiten, welche wohl unberücksichtigt liess, dass neben gewiss hohen Geburtenraten eine ähnlich hohe Kindersterblichkeit stand51. Wenn auch dieser Durchschnittswert von 3-5 Personen pro häusliche Gemeinschaft für einen grösseren Teil der Stadtbevölkerung gegolten zu haben scheint52, so gab es doch erhebliche Unterschiede, die ich im folgenden schichtspezifisch differenzieren möchte.
Vor allem die Mittelschicht lebte in einfachen häuslichen Gemeinschaften. Der Handwerksmeister oder Kleinhändler lebte mit seiner Frau und Kindern, sowie in der Regel mit einem Lehrling oder Gesellen im eigenen Haus oder zur Miete53. Häusliche Gemeinschaften, an deren Spitze Witwen standen, waren hier eher selten oder übergangslösungen54. Dies hatte sowohl ökonomische, wie auch gesellschaftliche Gründe: Komplementarität männlicher und weiblicher Aktivitäten und Ehe als sozialer Status des Erwachsenen55. Gesellen und Knechte waren in der Regel ledig, kinderlos und üblicherweise nicht aus dem Verwandtschaftkreis des Meisters, während dies bei Lehrlingen und Mägden gelegentlich vorkam56.
Auch die städtische Unterschicht der Lohnarbeiter lebte vorwiegend in einfachen häuslichen Gemeinschaften mit Eltern und Kindern, wobei hier häufig auch nur Ehepaare oder alleinstehende Witwen (häusliche Gemeinschaft ohne familiale Struktur) vorzufinden waren57.
Das Fehlen heranwachsender Kinder bei Unter- und Mittelschichten mag darauf zurückzuführen sein, dass sie als Arbeitskräfte im Elternhaus nicht oder nicht mehr benötigt wurden und dass das zu erwartende Erbe unerheblich war. Bei den zu Handwerksgesellen ausgebildeten Söhnen spielte ausserdem der Wanderzwang im zünftigen Gewerbe eine entscheidende Rolle58.
Allgemein scheint in der Stadt des Spätmittelalters das Prinzip der Neolokalität59 dominiert zu haben60. Die Weitergabe der Wohnung mit Werkstatt oder Laden an den eigenen Sohn scheint die Ausnahme gewesen zu sein, auch dann, wenn dieser den gleichen Beruf wie sein Vater ergriff61.
Bei den Patriziern hingegen war die Vererbung von Haus und Familiengeschäft die Regel und somit auch das Prinzip der Patrilokalität verbreiteter62. Da erstaunt es nicht, dass oft erwachsene Söhne und Töchter oder frischvermählte Ehepaare mindestens für eine gewisse Zeit in einem Patrizierhaus lebten63. Berücksichtigt man, dass manchmal auch nahe Verwandte im grossen Haus wohnten64, so waren hier neben einfachen auch erweiterte und multiple häusliche Gemeinschaften vorhanden. Ein solcher Haushalt beschäftigte natürlich ein grosses Gesinde, das meist auch im Haus wohnte65.

2. Organisation des Haushaltes
Dieser Abschnitt versucht, einen Einblick in die Organisation der Haushalte in der spätmittelalterlichen Stadt zu geben. Die Mitglieder verschiedener häuslicher Gemeinschaften werden hier nach ihren Funktionen in Haushalt und Betrieb differenziert.

Mittel- und Unterschichten
Der Mann war der Herr im Haus, er hatte die unangefochtene Hausgewalt inne. Nichtsdestotrotz ist für die untersuchte Zeit eine Zusammenarbeit der Eheleute in Haushalt und Betrieb festzustellen.
Da viele städtische Gewerbezweige sich aus Tätigkeiten entwickelt hatten, die in bäuerlichen Hausgemeinschaften dem weiblichen Arbeitsbereich angehörten, war die Frau in der Stadt des Spätmittelalters stärker als in späteren Zeiten in die gewerbliche Produktion integriert66. Insofern darf man die Mitarbeit von Frauen in solchen Gewerbezweigen wie Bäcker, Weber und Schneider durchaus annehmen67.
Auch wenn der Mann eine andere Arbeit verrichtete, betätigten sich Frauen oft unabhängig davon in traditionell weiblichen Berufen, speziell Textilgewerben. Dies hatte aber meist nur den Charakter eines Nebenverdienstes68. Mit den Beschränkungen und Verboten der Frauenarbeit durch die Zünfte Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts wurde zwar nicht dieser Nebenverdienst - Frauen standen weiterhin vorbereitende oder ergänzende Arbeiten offen69 - aber doch die berufliche Kooperation zwischen den Ehepartnern im eigenen Betrieb stark eingeschränkt oder beendet70.
Traditionell männliche Tätigkeiten wie Holz- oder Metallverarbeitung waren den Männern vorbehalten. Kaum finden sich Hinweise, dass Frauen ihren Mann in Berufen wie Schmied, Schlosser, Zimmermann oder Tischler unterstützt hätten71.
Da es im städtischen Handwerk nicht üblich war, den Betrieb dem Sohn zu vererben72, wurde der Bedarf an Arbeitskräften in der Werkstatt hauptsächlich durch Gesellen gedeckt73. Wahrscheinlich haben die Kinder im Haushalt, Töchter speziell bei Tätigkeiten der Mutter geholfen74. Auch das weibliche Gesinde arbeitete im Haushalt mit75.
Neben diesen Werkstattberufen „zu Hause“ gab es aber durchaus Arbeiten - für Lohnarbeiter wie auch für zünftige Handwerker - die ausser Haus getätigt wurden76. Oft arbeiteten Schneider, Tuchscherer, Schuster oder etwa Sattler im Haus des Auftragsgebers, wo sie - wie Tagelöhner - nebst Lohn auch Verpflegung erhielten. Auch Frauen aus dem Textilgewerbe, Näherinnen und Wirkerinnen, und Wäscherinnen arbeiteten in fremden Häusern. Bau- und Transportwesen schliesslich waren sowieso ausserhäusliche Gewerbe.

Oberschicht
Auch für die patrizischen Fernhändler ist die Kooperation zwischen Mann und Frau vielfach belegt77. Obwohl auch in dieser Schicht die Vorherrschaft des Mannes galt78, war die Zusammenarbeit durchaus partnerschaftlich79.
Die Haushaltsführung lag in den Händen der Ehefrau80. Sie kümmerte sich um das Dienstpersonal und ums Kochen, sie besorgte Einkäufe und führte manchmal das Haushaltsbuch81. Wichtige Entscheidungen, denen grössere Ausgaben folgen würden, besprachen die Eheleute gemeinsam82.
War einmal einmal eine Ware auf dem heimischen Markt nicht zu haben, beauftragte sie ihren Mann, der oft auf Reisen war, diese zu besorgen83. Das betraf zumeist Stoffe oder Kleider, aber auch Gewürze und Lebensmittel84.
Der Mann ging oft auf Geschäftsreisen, besuchte Messen, trieb Handel. So gewährleistete er den Lebensunterhalt seiner Familie, das Funktionieren seines Haushaltes85. Während seiner Abwesenheit übernahm die Ehefrau die Leitung der häuslichen Gemeinschaft und führte die Geschäfte weiter. Dabei konnte sie auf die Unterstützung ihres Mannes zählen, der sie in seinen Briefen immer wieder beriet und Anweisungen gab, was zu tun sei86. Wenn er wieder zu Hause war, verwaltete er seine Geschäfte und das Vermögen der Familie selbst87.

3. Beziehungen zwischen den Mitgliedern der häuslichen Gemeinschaft
Dieser Abschnitt stützt sich weitgehend auf die Forschungen Mathias Beers, der eine grosse Zahl von Briefen und Tagebüchern aus höheren Kreisen vornehmlich süddeutscher Städte analysiert hat. Dies schränkt den Geltungsbereich des Abschnittes offensichtlich auf die gebildete Schicht der Schreibkundigen ein, was hier meist patrizische Fernhändler und ihre Gehilfen sind.

Beziehungen zwischen familiären und nicht-familiären Personen
Für das Handwerk lässt sich nicht beurteilen, welche Qualität die Beziehungen zwischen dem Meister, seiner Frau und Kindern einerseits und den Gesellen, Knechten und Mägden andererseits hatten. Darüberhinaus besteht die Frage, ob das Gesinde, das aus der Verwandtschaft stammte, unterschiedlich behandelt wurde. Es ist anzunehmen, dass Gesellen, Knechte und Mägde neben der ökonomischen Einbindung in Betrieb und Haushalt je nach Verweildauer verschieden stark in die soziale Gruppe der häuslichen Gemeinschaft integriert waren88.
Für die Beziehungen von Patriziern zu ihrem Gesinde liegen nur wenige Quellen vor, die aber einen guten Umgang mit den Untergebenen zeigen. Eine Frau schrieb ihrem Ehemann, der auf einer Geschäftsreise war, dass sie einen Knecht namens Klaus immer noch im Dienst habe, da sie ihn nicht entbehren könne; sie sei mit ihm zufrieden89. Auch eine andere Ehefrau berichtete von zuhause. Sie schrieb ihrem Mann, er solle sich nicht um den kranken Knecht sorgen, sie pflege ihn und lasse ihn sogar in der „grosen kamber (...) auf des Hensles bet“90 schlafen.

Beziehungen zwischen Eheleuten
Entgegen früheren Forschungen zeigt Mathias Beer, dass seit der Mitte des 15. Jahrhunderts nicht mehr nur Vermögen und soziales Ansehen, sondern allmählich auch vermeintlich „neuzeitlich-bürgerliche“ Zuneigung und Aussehen den Ausschlag für eine Heirat geben konnten. Diese neue Haltung galt zunächst für niedrigere soziale Schichten, wurde aber bald selbst vom Patriziat übernommen91. Braut und Bräutigam wurden nicht mehr nur durch ihre Verwandtschaft, sondern auch durch sich selbst, durch ihre eigene Person charakterisiert92.
Die Häufigkeit und Qualität der Briefwechsel zwischen Ehegatten lässt durchaus emotionale Beziehungen zwischen Mann und Frau erahnen. So wurde in fast jedem Brief die Freude über den Erhalt des letzten Briefes betont: „Libe An, ich pit dich, schreib mir oft. Du weist nid, wye es mir als wol czu danck ist, wen du mir schreibst. Schreib mir alle gelegenheit wye es dir gett und allen dingen, ader wye sich das kint gehabt“93.
Die Handelsreisen des Mannes bedeuteten oft eine längere Trennung der Eheleute94. In den Briefen wurde wiederholt der Sehnsucht nach dem Partner Ausdruck gegeben95. Die Frau eines Lübecker Fernhändlers schrieb ihrem Mann etwa: „leve Mattes (...) gi maken my grawe har dat gi so lange van my synt.“96 Die Anreden in den Briefen sind kurz und herzlich, und mit wenigen Ausnahmen duzen sich die Eheleute97.
Anders als Bekenntnisse der Zuneigung und der Sehnsucht fanden Unstimmigkeiten und Streit zwischen den Eheleuten kaum Aufnahme in die Korrespondenz. Hinweise auf solche ehelichen Probleme beschränken sich auf Autobiographien und Gerichtsakten98.

In einer Zeit, in der die Gesundheit durch Krankheiten und Epidemien andauernd gefährdet war, erschien es wohl nicht nur als Floskel, wenn der Briefpartner sich nach dem Wohlbefinden des Empfängers erkundigte. Ausserdem waren die Gefahren des Reisens für Handelsleute nicht zu unterschätzen: überfälle von Raubrittern kamen durchaus vor99.
Die Sterblichkeitsrate war hoch, die häusliche Gemeinschaft instabil. Mit dem Tod des Ehepartners, besonders der Ehefrau, die durch die Schwangerschaft besonders gefährdet war, musste in der untersuchten Zeit eher gerechnet werden. Es wird angenommen, dass im Schnitt zweimal geheiratet wurde100.
Wie Familienaufzeichnungen zeigen, war es auch101 bei den Patriziern üblich, sich nach dem Tod der Ehefrau neu zu verheiraten102. Dies hatte vor allem ökonomische Gründe, da der Mann auf die Mithilfe der Frau bei seiner Geschäftstätigkeit angewiesen war und der Haushalt und das Gesinde der Leitung durch die Ehefrau bedurften103.
Der Tod des Ehepartners wurde aber nicht gleichgültig hingenommen, wie dies frühere Studien darzustellen versuchten, sondern betrauert104. Der Nürnberger Patrizier Endres Imhoff etwa, der ein halbes Jahr nach dem Tode seiner ersten Frau neu heiratete, schreibt dazu: „hetten ein stille hochzeit.“105

Beziehungen zwischen Eltern und Kindern
Mit grosser Freude und Aufmerksamkeit wurde die Schwangerschaft von beiden Eheleuten wahrgenommen106. Der Kinderwunsch war gross, und „die ee von gott, unserm herren und schopfer allein umb merung der welt (...) uffgesetzt.“107
Die Geburt war für Mutter und Kind mit grossen Risiken verbunden. Wenn sie ohne Komplikationen verlief, war sie ein umso froheres Ereignis108. Die Hoffnung war gross, einen Sohn zu bekommen, der schliesslich Erbe und Stammhalter war109. Besonders deutlich wurde dies, wenn diese Hoffnung bei der Geburt einer Tochter enttäuscht wurde. Konrad Grebel beglückwünscht seinen Schwager zur Geburt seiner Tochter - allerdings mit Vorbehalt: „Gratulator tibi natam DwroJean. quam vis maluissem QeodoVion sive Dwrodeon.“110 Und Paul Hofmeier schreibt einem Bekannten, er habe mit seiner Frau zwei „töchterlein erworben“ deren „ich mich hoch erfrew“, fügt aber hinzu, „bis mir got der herr (als ich hoff) ayn sun verleicht.“111
Ob Knabe oder Mädchen, die Eltern kümmerten sich fürsorglich um das Kind. Die meisten Mütter stillten ihre Kinder selbst112. Das Stillen durch eigens dafür ins Haus geholte Stillammen wurde vor allem in reicheren Häusern praktiziert: es war ein Statussymbol, sich solche Dienste leisten zu können. Man glaubte aber auch, dass die Milch der Mutter in den ersten 20 Tagen nach der Geburt schädlich für das Kind sei113.
Nach dem Abstillen ging man zur Ernährung mit Brei und Kuhmilch über. Anstatt Wasser wurde den Kindern oft leichtes Bier und schwacher Wein verabreicht, um so möglichen Infektionen vorzubeugen114.
In den Briefen der Eheleute, in der Korrespondenz mit Verwandten oder in Familienaufzeichnungen wurde immer wieder auf die körperliche und geistige Entwicklung des Kindes Bezug genommen. Sie wurde von den Eltern aufmerksam verfolgt115. Der Vater von Margarethe Platter verzeichnete stolz: „vnd vnser kindlin vff eim abendt hatt lernen fünf drittlin gan.“116 Und die Nürnbergerin Helena Grundherr schrieb ihrem Bruder, der in Lyon zum Kaufmann ausgebildet wurde, ihre kleine Ursula sage oft, der Vetter werde kommen und mit ihr tanzen. Auf die Frage, wo er sei, antworte sie, „du seist zu myaun“117.
Um die Kinder vor Krankheiten zu schützen, wurden ihnen nach der Geburt oft Glücksbringer und Amulette umgehängt118. Wenn eine Pestepidemie die Stadt, in der die Familie wohnte, bedrohte, brachte der Vater meist Frau und die besonders anfälligen, da abwehrschwachen Kinder in Sicherheit119.
Wenn ein Kind trotzdem erkrankte, taten die Eltern alles, damit es wieder genesen konnte. War mit hauseigenen Mitteln oder Therapien nicht zu helfen, scheuten sie auch nicht davor zurück, gegen teures Geld einen Arzt kommen zu lassen. Auch riefen sie Gott um seinen Beistand an120. Konnten sie nichts gegen die Erkrankung tun - etwa bei Kinderkrankheiten wie Röteln oder Windpocken - so liessen sie dem Kind wenigstens liebevolle Betreuung und besonders gute Nahrung zukommen121. „Da sy an plattern lagen“, kaufte Paul Behaim seinen Kindern „met, roten Wein und erperwasser“122. Nahm die Krankheit unverhofft eine Wende, und das Kind erholte sich, so war man umso erleichterter.
In vielen Fällen nützten Behandlung und Pflege jedoch nichts, und das Kind starb. Auch in den wohlhabenden Schichten, die ihren Kindern beste ärztliche Betreuung geben konnten, muss mit Sterblichkeitsraten von 30-50 % unter 5-7 Lebensjahren gerechnet werden123.
Aus diesen Zahlen zog die ältere Forschung124 unter anderem den Schluss, die Eltern hätten ihren Kinder damals fast gleichgültig gegenüber gestanden und den Tod eines Kindes emotionslos hingenommen. Neuere Studien widerlegten dies125, und Mathias Beer zeigt in seiner Arbeit, dass ein Tod des Kindes durchaus Trauer und Leid hervorrief126. Der Wiener Arzt Johannes Tichtel schreibt am 13. Juli 1484 in sein Tagebuch: „O! In hoc die moritur filius Gregorius! Dulcis mi puer!“127 Margarethe Rechberger war beim Tod ihrer Tochter „voll des kumers vnd trybsal“128. Und Johannes Cuspinian verzeichnet in seinem Tagebuch den Tod seiner Tochter mit folgenden Worten: „Circa XII horam noctis mortua est mea charissima filiola Helena, quam cum multis lacrimis sepelivi.“129

 

VI. Schlusswort
Die Sozialtopographie der spätmittelalterlichen Stadt leuchtet ein, obwohl sie auf heutige Städte so nicht mehr angewendet werden kann: die reichen Patrizier wohnten möglichst zentral, am Marktplatz oder an der Hauptstrasse. Handwerker und Kleinhändler waren eher in den Seitengassen zu finden, während die Unterschichten, Tagelöhner, arme Witwen, dicht gedrängt am Rande der Stadt lebten.
Der Durchschnittswert von 3-5 Personen pro häusliche Gemeinschaft trifft am ehesten für Handwerker und Krämer zu, die mit Frau, Kindern, einem Gesellen oder Lehrling und wenig Gesinde in einer einfachen häuslichen Gemeinschaft lebten. Ihre Häuser waren eher dunkel und klein, meist aus Holz oder Fachwerk erbaut. Der Mann war der Hausherr und hatte die Hausgewalt inne. Er arbeitete in der Regel in einer Werkstatt oder einem Laden im selben Haus. Neben dem Gesellen arbeitete in manchen Fällen auch die Frau unterstützend im Betrieb mit, oder sie ging einer eigenen Arbeit als Nebenverdienst nach. Da die übernahme des Betriebes durch den Sohn im zünftigen Gewerbe nicht üblich war, halfen die Kinder am ehesten im Haushalt mit.
Im Patriziat war das soziale Ansehen der Familie wichtig, die Vererbung des Familienbesitzes an einen Stammhalter keine Frage. Das oft aus Stein erbaute Patrizierhaus war gross und hell. Neben der Kernfamilie des Hausherrn und einem üblicherweise grossen Gesinde lebten oft auch nahe Verwandte im Haus, d.h. hier kamen nebst einfachen auch erweiterte und multiple häusliche Gemeinschaften vor. Wenn der Hausherr auf Handelsreise war, übernahm seine Frau die Leitung des Hauses und führte die Geschäfte weiter. Hier bestand eine partnerschaftliche Arbeitsteilung, die von dem oft guten Verhältnis zwischen den Ehepartnern profitierte. Die Ehefrau war dem Mann in vielen Fällen nicht nur ökonomisches Muss, sondern auch geliebte Partnerin. Den Kindern wurde viel Aufmerksamkeit geschenkt. Trotz der hohen Kindersterblichkeit wurden sie umsorgt, behütet, geliebt.
Es erwies sich als gute Idee, die Arbeit von aussen nach innen zu gliedern. Sozialtopographie und Zusammensetzung der häuslichen Gemeinschaften lassen sich auf demographische und statistische Daten abstützen130. Die Architektur damaliger Stadthäuser kann mancherorts heute noch in situ studiert werden. Infrastruktur und Einrichtung sind durch Archäologie und die Auswertung verschiedener Quellen, z.B. Rechnungsbücher, brauchbar rekonstruiert worden. Mit einer solchen Basis liess sich gut arbeiten. Zur Organisation des Haushaltes war die Literatur wenig ergiebig. Hier herrscht noch grosser Forschungsbedarf, bis ein einigermassen klares Bild geschaffen werden kann. Für die Beschaffenheit der Beziehungen zwischen den Menschen konnten aus den Briefen und Tagebüchern erstaunlich gute Hinweise gewonnen werden. Der von Mathias Beer verfolgte psychologische oder Emotional-Ansatz, mit dem die Briefe analysiert wurden, ist interessant und sollte im Hinblick auf eine umfassendere Sozialgeschichte des Mittelalters unbedingt weiter verfolgt werden. Dass Haushaltsorganisation und Beziehungen bzw. die Psyche des mittelalterlichen Menschen schwierig zu fassende Themen sind, wo man an die Grenzen von Quellenarbeit und Quelleninterpretation stösst, ist offensichtlich. Das ist es aber auch, was dieses Forschungsgebiet so interessant macht.


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